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Predigt von Lk 22,47-53 am Sonntag Okuli 2023 in Lohra und Damm


Liebe Gemeinde!


I. Die Ausgangssituation der Passion


Es gehört wohl zu uns als Menschen, dass wir immer wieder verraten, was uns heilig ist,
ablehnen, was uns retten könnte, geringschätzen, was uns reich machen könnte, ja sogar
zurückweisen, was wir lieben. Die Passionsgeschichte ist voll von diesen tragischen
Geschichten und tragischen Gestalten, die eins gemeinsam haben: Aus Angst handeln sie
anders als sie eigentlich wollten und immer so, dass es in die Verzweiflung mündet.
Hören wir heute von einer dieser tragischen Gestalten. Es ist Judas. Ich lese unseren
Predigttext für diesen Sonntag aus dem Lukasevangelium im 22. Kapitel:
47 Als er aber noch redete, siehe, da kam eine Schar; und einer von den Zwölfen, der mit dem
Namen Judas, ging vor ihnen her und nahte sich zu Jesus, um ihn zu küssen. 48 Jesus aber
sprach zu ihm: Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuß? 49 Als aber, die um ihn
waren, sahen, was geschehen würde, sprachen sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert
dreinschlagen? 50 Und einer von ihnen schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb
ihm sein rechtes Ohr ab. 51 Da sprach Jesus: Laßt ab! Nicht weiter! Und er rührte sein Ohr
an und heilte ihn. 52 Jesus aber sprach zu den Hohenpriestern und Hauptleuten des Tempels
und den Ältesten, die zu ihm hergekommen waren: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit
Schwertern und mit Stangen ausgezogen. 53 Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen, und
ihr habt nicht Hand an mich gelegt. Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.


II. Die Tragik: Wenn sich aus Angst alles ins Gegenteil verkehrt

Liebe Gemeinde! Ein Kuss. Eine intime, zärtliche Geste. Ein Kuss setzt Vertrauen voraus und
ist Zeichen der Liebe, mindestens des Wohlwollens. Es gibt ja nicht nur den erotischen Kuss,
sondern auch den Kuss zur Begrüßung, wie er z.B. in Frankreich ganz üblich ist. Mit einem
Kuss verbinden wir in jedem Fall Vertrauen, Offenheit, Zärtlichkeit und Liebe. Alles
Wesenszüge, die unser Leben unendlich reich machen. Ja, ich würde so weit gehen, zu sagen:
Das Leben fühlt sich eigentlich überhaupt erst lebendig an, wenn es von Vertrauen, Offenheit,
Zärtlichkeit und Liebe geprägt ist. Der Lebensweg des Mannes aus Nazareth ist durchzogen
von Begegnungen, die genau das zum Ausdruck bringen.
Und Judas ist als einer der Jünger Jesu diesen Weg mitgegangen und wird es selbst gesehen
und gespürt haben, dass es so ist. Dennoch, dennoch verkehrt Judas all das in sein Gegenteil.
Aus dem Kuss als Zeichen des Vertrauens macht er ein Zeichen des Verrats.
Ich möchte verstehen, warum Judas so gehandelt hat. Wirklich nur aus Geldgier? Wirklich
nur für diese 30 Silberlinge? Nach all dem, was er mit Jesus zusammen erlebt und erfahren
hat, kann ich mir das nicht recht vorstellen. Freilich: Es wäre so einfach, wenn wir sagen
könnten: Der war halt geldgierig. Da sieht man, wohin das führt. Gut, dass ich nicht so bin.
Ich denke, für Judas stand mehr auf dem Spiel. Ich denke, er hat sich viele Gedanken
gemacht. Hat sorgfältig abgewogen und eine große Last getragen. Was, wenn durch Jesus
noch mehr Unruhe entsteht? Was, wenn durch diese ganze Bewegung die römische
Besatzungsmacht auf den Plan gerufen wird? Es könnte doch passieren, dass sie mit ihrer
militärischen Überlegenheit das jüdische Volk niedermachen. So viel Zerstörung, Leid und
Tod. Und kann es denn überhaupt wirklich wahr werden, was Jesus gesagt hat: dass jeder von
uns so unmittelbar mit Gott verbunden ist, dass wir ihn Vater nennen können? Das wir bei
ihm geborgen sind in Ewigkeit? Dass er vergibt, dass er uns nachgeht, dass er uns findet und
uns in seine Arme nimmt. Dass wir dort ausruhen dürfen von all unseren gescheiterten
Versuchen unser Leben selbst zu gestalten? Ist das nicht alles zu schön um wahr zu sein?
Vielleicht waren das einige von Judas‘ Gedanken.
Auf diese Weise kommt mir Judas näher und ich erkenne mich in ihm wieder. Wie oft sind
wir überfordert mit den Grundentscheidungen unseres Lebens: Wie oft sind wir überfordert,
wenn es darum geht zu wählen, zwischen himmlischer Wahrheit und irdischer Ordnung,
zwischen visionärer Möglichkeit und vermeintlicher Realität, zwischen dem, was ich für
unmittelbar wahr erkannt habe und zwischen dem, was andere von mir erwarten und für
vernünftig halten.
Judas möchte das jüdische Volk vor dem Untergang bewahren. Er möchte dies irgendwie im
Rahmen der herrschenden Realitäten von Macht und Gewalt hinbekommen. Und dann wählt
er den einzigen Weg, den er sieht: Er verrät Jesus.
Das macht die Tragik aus, dass wir immer wieder im Rahmen scheinbar unverrückbarer
Realitäten verraten, was uns eigentlich lieb und teuer ist. Dass wir mitmachen und
weitermachen, wo wir uns radikal anders entscheiden müssten. Und eigentlich immer
geschieht das aus irgendeiner Angst heraus.
Wo das geschieht, passiert genau das, wovon der Predigttext erzählt. Wir verlieren jeden
Spielraum, jeden Denk- und Fühlraum und greifen zum Schwert. Als aber, die um ihn waren,
sahen, was geschehen würde, sprachen sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen?,
hieß es im Text. Und ohne auch nur eine Antwort, einen Austausch abwarten zu können folgt
die Tat: Und einer von ihnen schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein
rechtes Ohr ab.
Ich glaube, dass uns genau das immer wieder passiert: Wir versuchen, zu bewahren, zu
verteidigen, was uns lieb und teuer ist und geraten dabei auf Abwege, ja, geraten dabei in
einen Strudel, der uns gerade das verraten lässt, was wir als gut und richtig erkannt hatten.
Und daraus folgt immer mehr Gewalt und Gegengewalt, Hass und Misstrauen.


III. Jesu Weg aus der Angst – das Aushalten der Dunkelheit

Was dann kommt, ist Sinnbild für den Weg, den Jesus gegangen ist und auf dem die
Osterhoffnung ruhen wird. Jesus möchte einen Weg aufzeigen, der den ewigen Kreislauf von
Gewalt und Gegengewalt, Angst und Verzweiflung, Misstrauen und Verrat durchbricht. Da
sprach Jesus: Laßt ab! Nicht weiter!
Mit diesen Worten stoppt Jesus das Handeln seiner Jünger. Den Weg, den seine Jünger da
einschlagen, war nie sein Weg und soll es auch jetzt nicht werden. Weil er weiß, dass dieser
Weg nur immer neue Verwundungen an Leib und Seele mit sich bringt. Er ist nicht
gekommen, neue Wunden zu schlagen, sondern Wunden zu heilen. Und er rührte sein Ohr an
und heilte ihn.
Dann lässt Jesus sich verhaften. Er lässt sich auf den Weg des Leidens ein. Er kann das, weil
er sich zuvor im Garten Gethsemane mit all seiner Angst, all seinem Widerstand Gott
anvertraut hat. Und dann kann er den Weg gehen, der vor ihm liegt. Er kann sich hingeben
und eingestehen: Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.
Ich glaube, dass ist der Moment, in dem der Ostermorgen hindurchschimmert. Dass Jesus sich
hier all unserer oft so tragischen Versuche, unser Leben und diese Welt zu gestalten, hingibt
und die damit verbundene Macht der Dunkelheit aushält. Dass er sich uns, die wir uns mit
besten Absichten immer wieder in Misstrauen, Verrat, Schuld und Gewalt verstricken nicht
entzieht, sondern dableibt, aushält, auf sich nimmt.


IV. Auf dass wir endlich Getragene und Getröstete werden, damit die Spirale der Angst
vergeht

In der Kathedrale von Vézelay gibt es zwei Kapitelle; auf dem einen sieht man das übliche
Bild des Judas: einen habgierigen, den Geldsack umklammernden Dieb mit weit geöffnetem
Mund; das andere aber zeigt Judas, wie er liegt auf dem Rücken Jesu, die Augen geschlossen,
wie friedlich schlafend, ein Geretteter.
Vielleicht ist das unser Ausweg aus der Tragik der Angst: Dass Jesus steht zu den Leuten, die
in ihrer Gebrochenheit leiden an dem, was er in die Welt gebracht hat. Die ihn als Wahrheit
erkannt haben und doch immer wieder zweifeln. Die allen Trost weiter brauchen werden, weil
sie sich selber kaum kennen und immer wieder verraten, was ihnen an Vertrauen, Offenheit,
Zärtlichkeit und Liebe begegnet.
Ja, das ist ein Ausweg aus der Tragik unserer Angst: Dass Jesus steht zu Leuten wie dir und
mir. Auf dass unsere Küsse Zeichen des Vertrauens, der Offenheit, der Zärtlichkeit und Liebe
sind.


Amen