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Predigt von Mk 12,1-12 am Sonntag Reminiszere 2023 in Lohra und Altenvers

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, der für uns gelitten hat, sei mit euch allen.
Liebe Gemeinde!
„Von den bösen Weingärtnern“ – so ist das Gleichnis, das wir gerade in der Schriftlesung
gehört haben, in der Lutherbibel überschrieben.


I. Der historische Bezug


Jeder, der damals dies Gleichnis gehört hat, hat es mit Worten des Propheten Jesaja verknüpft:
„Der Weinberg“, so Jesaja, „das ist Israel“. Er ist von Gott liebevoll angelegt worden, mit
allem, was zum Wachsen und Gedeihen nötig war. Er hätte gute Früchte bringen müssen, tut
es aber nicht, weil großes Unrecht in ihm herrschte.
Dieses Bild nimmt Jesus auf und verknüpft es mit seinem eigenen Leben. Er steht letztlich in
einer langen Reihe mit all den Boten Gottes, die Israel abgewiesen, ermordet und ausgestoßen
hat. Warum auch sollte es mit ihm anders laufen? Ständig töten die Menschen, was sie leben
ließe; vernichten, was ihnen helfen könnte; leugnen, was ihnen die Wahrheit brächte, und
immer erst am Ende, im Rückblick auf all das Unheil und die Zerstörung, käme die Reue und
das Erwachen, beides aber nicht tief genug, um den Todeskreislauf zu durchbrechen. Und
würde das immer so weitergehen, wäre dieses Gleichnis einfach nur abgrundtief traurig.
Jetzt könnte man sagen: Mit Jesus hat ja das Neue angefangen, der Todeskreislauf ist
durchbrochen, ein neuer Bund ist aufgerichtet zwischen Gott und den Menschen, die
christliche Kirche ist nun das wahre Israel und wir haben aus dem Tod Jesu gelernt, wovon
wir leben. Das Gleichnis würde uns heute dann gar nicht mehr betreffen, es würde lediglich
ein 2000 Jahre altes Problem beschreiben, nämlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen
der jüdischen und der neuen christlichen Gemeinde. Lesen wir es so, haben wir Christen nicht
nur den Weinberg, sondern auch die ganze Wahrheit gepachtet. Wir könnten mit dem Finger
auf Israel und das Judentum zeigen, die bösen Weingärtner wären eindeutig identifiziert und
wir müssten uns mit uns selbst gar nicht mehr auseinandersetzen.
Weil das mit uns und unserem Leben und Glauben aber nicht so eindeutig und einfach ist,
versuche ich das ganze Gleichnis noch einmal neu nachzuerzählen und zwar so, dass es die
Geschichte eines jeden von uns sein kann.


II. Wir selbst als Pächter von Lebensweinbergen


Das Leben eines jeden von uns gleicht dann einem Weinberg, von Gott hergerichtet und
ausgestattet, um reiche Frucht zu bringen. Alles ist gut angelegt durch die Schöpferhände
Gottes, so vollendet und schön, wie es besser nicht sein könnte. Und Gott sah, was er gemacht
hatte, und sprach: Siehe, es ist sehr gut.
Nun sind wir Menschen entwicklungspsychologisch Frühgeburten. Deshalb vertraut Gott
diesen Weinberg unseres Lebens von Anfang an anderen Menschen an, seinen Pächtern. Am
deutlichsten wird das vielleicht am Beginn unseres Lebens, wo wir anvertraut sind unseren
Eltern, angewiesen darauf, dass wir in ihrer Gegenwart wachsen und gedeihen dürfen. Dieses
Angewiesen sein darauf, dass mich der andere wachsen und gedeihen lässt, bleibt ein Leben
lang. Dass ich die Früchte zeigen darf vor dem, der sie hat reifen lassen. Wir sollten in jedem
Moment wissen, dass mit unserem Gegenüber nur ein geliehenes, geschenktes Gut anvertraut
bekommen haben, das heranreifen will zu seiner Vollendung, seiner Schönheit und seiner
Fruchtbarkeit, die Gott schon längst angelegt hat.
Unsere Kinder gehören uns nicht. Ehepartner gehören einander nicht.


III. Wenn aus Pächtern Besitzer werden wollen


Warum ist es so schwer, miteinander so zu leben?
Das Evangelium meint: Alles beginnt mit dem Missverständnis, dass wir meinen, wir müssten
uns vom Pächter zum Eigentümer und Herrscher aufschwingen. Wir sehen im anderen nicht
den uns von Gott anvertrauten Menschen, sondern begreifen uns als Eigentümer und Herren.
Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: Dies ist der Erbe; kommt, laßt uns ihn
töten, so wird das Erbe unser sein!
Das ist es, was wir immer wieder anstreben: Erbschaft antreten und Eigenbesitz verwalten.
Die Menschen an unserer Seite zu dem machen, wie wir sie gerne hätten, wie sie nach
unseren Vorstellung zu sein haben. Immer wieder müssen wir uns selbst fragen, ob die
Verantwortung, die wir für die uns anvertrauten Menschen übernehmen, nicht in Wahrheit ein
Machtanspruch ist. „Ich bin verantwortlich für dich“ hieße dann in Wahrheit: „Du bist nicht
zuständig für dein Leben.“ „Ich muss so handeln, weil es das Beste für die dich ist.“ heißt
eigentlich: „Du bist im Unrecht und weißt nicht auf dich aufzupassen.“ „Ich bin zuständig.“
heißt dann „Ich habe die Macht, zu entscheiden über Gut und Böse, Richtig und Falsch.“ Und
noch ehe man gesehen hat, von welcher Art die Früchte im Weinberg des Lebens des anderen
sind, ist man schon beim Ausreißen und Zurückschneiden, beim Reglementieren und
Besserwissen.
Das ist besonders tragisch, weil es oft genug ohne bösen Willen geschieht. Eher in bester
Absicht. So wie es ein bengalischer Dichter und Philosoph (Rabindranath Tagore) einmal
geschrieben hat:


Warum verlosch die Lampe?
Ich schütze sie mit meinem Mantel,
um sie vorm Sturm zu wahren.
Darum verlosch die Lampe.

Warum verwelkte die Blume?
Ich drückte sie ans Herz
in angsterfüllter Liebe.
Deshalb verwelkte sie.

Warum vertrocknete der Fluss?
Ich baute einen Damm,
um ihn allein für mich zu nützen.
Deshalb vertrocknete der Fluss.

Warum zerriss die Harfenseite?
Ich wollt‘ ihr einen Ton abringen,
den sie nicht geben konnte.
Deshalb zerriss die Saite.


Es furchtbar und traurig zu sehen, wie wenig an bösem Willen zu dieser Art des Umgangs
gehört, mit der wir den anderen zur Fruchtlosigkeit verdammen.
Ich will es an einem Beispiel aus meiner Beratungspraxis verdeutlichen:
Da kam ein junger Student in die Beratung. Ihn quälten Ängste, dem Studium nicht
gewachsen zu sein. Irgendwann schilderte er folgende Szene aus seinem Leben: Er habe vor
allem bei den Deutschhausaufgaben immer seine Mutter zu Rate gezogen. Sie kann gut mit
Sprachen und Texten umgehen. Wenn er etwas geschrieben hatte, zeigte er das Ergebnis. Und
fast immer war die Antwort: „Ja, das ist schon ganz gut, aber dies oder jenes könntest du noch
so oder so machen. Dann ist es noch besser.“ Er ist ihrem Rat gefolgt und hat fast immer eine
Eins für seine Ausätze bekommen. Dann war da eine Zeit, in der er nicht nachfragen konnte
und ganz allein schreiben musste. Er bekam eine Zwei und über diese Zwei hat er sich mehr
gefreut als über alle Einsen zuvor. Bis heute fällt es ihm aber schwer, dieses „Ja, aber“ in
seinem Denken und Fühlen als nicht seins zu identifizieren und zu dem zu stehen, was er
zustande bringt. Es fällt ihm immer wieder schwer, daran glauben zu können, dass es sich
überhaupt lohnt, das, was in ihm an Ideen und Fähigkeiten angelegt ist, auch zur Entfaltung
zu bringen. Noch ehe es reifen durfte, ist es dem „Aber“ zum Opfer gefallen.

So leben wir oft genug: geregelt, festgelegt, gezwungen, ohne eigene Spielräume. Auf
welcher Seite wird Jesus stehen, wenn er zum Weinberg seines Vaters kommt?


IV. Im Vertrauen auf Gott Pächter bleiben


Die Hoffnung bleibt, dass Jesus nicht umsonst gestorben ist und dass es nicht ewig so
weitergeht: zuerst zerstört man und schließlich tut’s einem leid, dann versucht man’s anders
zu machen, und dann geht’s wieder weiter, und so durch die Jahrtausende und hört nie auf.
Hoffen möchte ich, dass Jesus in dem Sinn einmal recht behielte als der Auferstandene, der in
unserem Herzen Lebende, auf dass wir unseren Träumen glauben, die oft so verschüttet sind;
ja, dass wir der Kraft unseres Gefühls, unserer eigenen Gedanken, der Stimme in unserem
Innersten Raum geben, und dass es uns trägt wie der aufsteigende Saft in den Reben im
Weinberg. Denn wir sind dazu bestimmt, von oberster Stelle dazu bestimmt, dass unser
Dasein reich sein kann, fruchtbar sein kann und sich entfalten darf.
Alles, was da ängstigt, erstickt, festlegt weiche der österlichen Hoffnung, dass Gott uns selbst
und die uns Anvertrauten zum Leben erweckt weit über unsere Möglichkeiten hinaus. Er hat
die Macht, uns einen Weg zu führen, der seiner würdig ist und uns selbst und den Anderen zu
Wachstum und Gedeihen verhilft.


In diesem Sinne formuliere ich das Gedicht noch einmal um:

Warum leuchtete dein Licht?
Ich stellte es auf einen Leuchter
ohne Angst, die Stürme könnten ihm etwas anhaben.
Darum leuchtete mein Licht.

Warum blühte die Blume?
Ich ließ sie wachsen
dem Sonnenlicht entgegen,
vertrauend es weise ihr das Ziel.
Deshalb blühte sie.


Warum spendete der Fluss Leben?
Ich ließ ihn seinen eigenen Lauf suchen
damit er möglichst vielen nutzte.
Deshalb spendete er Leben.


Warum erklang die Harfenseite?
Ich hörte leise hin auf die Töne,
die ihr zu eigen waren
und schlug sie sachte an.
Deshalb erklang die Saite.

Und so soll es sein.